Erneutes Vertragsverletzungsverfahren in Sachen Rettungsdienst-Vergabe
Die EU-Kommission hat einen Beschluss vom Donnerstag, den 15. Juli 2021 bekannt gegeben, mit dem ein (erneutes) Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet wird – und zwar u. a. wegen der Vergabe rettungsdienstlicher Durchführungsaufträge.
In einer mit Gründen versehenen Stellungnahme rügt die Kommission angebliche Gemeinschaftsrechtsverstöße in drei Sparten bzw. Sachverhaltskomplexen:
- die Berechnung von Architektenleistungen,
- die Befreiung von Rettungsdiensten von den Vergabevorschriften und
- die fehlende Begriffsbestimmung von „Postdiensten“.
(Quelle: Pressemitteilungen der EU-Kommission, unter: https://ec.europa.eu/germany/news/20210715-vertragsverletzungsverfahren-deutschland_de)
Inhaltlich bezieht die Kommission ihre Beanstandungen auf den (im folgenden fett dargestellten) letzten Halbsatz des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB (sprich: der deutschen Umsetzungsregelung zur Bereichsausnahme):
„Dieser Teil ist nicht anzuwenden auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen
(…)
4. zu Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und die unter die Referenznummern des Common Procurement Vocabulary 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung fallen; gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.„
Mit diesem letzten Halbsatz ergänzte der Bundesgesetzgeber seinerzeit den Ursprungswortlaut der Art. 10 lit. h RL 2014/24/EU (Vergabekoordinierungsrichtlinie) bzw. Art. 10 Abs. 8 lit. g RL 2014/23/EU (Konzessionsrichtlinie) um eine sog. Vermutungsregel zugunsten der Hilfsorganisationen.
Die Bundesregierung argumentiert in diesem Zusammenhang, dass die in § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. Hs. GWB angesprochene Anerkennung als Zivil- und Katastrophenschutzorganisation eben keine Voraussetzung dafür sei, um als Auftragnehmer unter die Bereichsausnahme zu fallen. Diese Einrichtungen gälten nur „insbesondere“ als gemeinnützig. Anders ausgedrückt: Auch andere Organisationen oder Vereinigungen ohne Anerkennung im Zivil-/Katastrophenschutz können selbstverständlich unter die Bereichsausnahme fallen, wenn sie nur das Merkmal der Gemeinnützigkeit erfüllen.
Die Kommission hingegen verweist auf die Entscheidung des EuGH im Vorlageverfahren des OLG Düsseldorf in Sachen Falck (EuGH, Urt. v. 21.03.2019, Rs. C-465/17), in welchem der Gerichtshof klargestellt habe, dass Art. 10 lit. h RL 2014/24/EU „dem entgegensteht, dass nach nationalem Recht anerkannte Hilfsorganisationen wie Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen als „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ im Sinne dieser Bestimmung gelten, soweit die Anerkennung als Hilfsorganisation im nationalen Recht nicht davon abhängt, dass keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt …“ – m. a. W. also die Einordnung unter die Bereichsausnahme aufgrund anderer Kriterien als der Gemeinnützigkeit ermöglicht wird.
Bewertung:
Der Anlass für die erneute juristische Auseinandersetzung zwischen der Kommission und der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Rettungsdienst dürfte diesmal eher im Graduellen, nämlich im Kern letztlich im unterschiedlichen Verständnis vom Begriff der „Hilfsorganisation“ liegen. Während nach nationalem Rechtsverständnis in Deutschland unter den Begriff (derzeit) lediglich ASB, DLRG, DRK, JUH und MHD fallen, ist die gemeinschaftsrechtliche Auslegung eine weitergehendere. Insofern kennt die deutsche „Brille“ tatsächlich nur Hilfsorganisationen, die auch gemeinnützig sind. Nach europäischer Lesart hingegen kann dies auch auf andere Organisationen zutreffen, die nicht unbedingt gemeinnützig sein müssen – mit der Folge, dass dann § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. Hs. GWB in der Tat eine Tatbestandsvariante schaffen würde, die im Sekundärrecht (sprich: den europäischen Vergaberichtlinien) nicht vorgesehen ist.
Grundsätzlich erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt die inhaltliche „Fallhöhe“ des erneuten Vertragsverletzungsverfahrens eher gering, da selbst ein etwaiger Nachbesserungsbedarf rein praktisch ohne Auswirkungen auf das Regelungsergebnis zumindest der bundesrechtlichen Regelung des § 107 GWB bleiben dürfte. Sollte sich die Auffassung der Kommission vor dem EuGH durchsetzen, könnte dies allerdings Auswirkungen auf solche landesrechtlichen Regelungen haben, die neben der Gemeinnützigkeit weitere Voraussetzungen für die Anwendbarkeit auf bestimmte (potentielle) Bieter aufstellen.
Ausblick:
Die aktuelle Entwicklung unterstreicht die Notwendigkeit, sowohl die (strukturellen) Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme, als auch deren Voraussetzungen und Grenzen, in den landesrechtlichen Regelungen der Rettungsdienstgesetze sauber abzubilden. Generell gilt – sowohl für die Landesgesetzgeber, als auch für die Aufgabenträger -, dass jede Beschränkung des Wettbewerbs den hohen Hürden insbesondere des Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) genügen muss. D. h., dass jede Entscheidung zur Anwendung der Bereichsausnahme auch bei einer grundsätzlichen Weichenstellung im jeweiligen Landesrettungsdienstgesetz immer an den konkreten Gegebenheiten des jeweiligen Rettungsdienstbereiches gemessen und daher im Einzelfall getroffen werden muss.