OVG NRW zur Anwendung der Bereichsausnahme
In einer aktuellen Entscheidung hat das Oberverwaltungsgericht Münster eine Entscheidung zur Anwendbarkeit der Bereichsausnahme in Nordrhein-Westfalen getroffen (OVG NRW, Beschl. v. 16.12.2022 – 13 B 839/22).
Das OVG setzt sich in seinem Beschluss von den bisherigen Entscheidungen der Vergabekammer Westfalen (Beschl. v. 15.06.2022, VK 1 – 20/22) und des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen (Beschluss vom 13.07.2022 – 15 L 743/22) ab; Letztere liegt der nunmehrigen Entscheidung des OVG als erstinstanzlicher Beschluss zugrunde. Sowohl die Vergabekammer, als auch das Verwaltungsgericht hatten bisher die Anwendung der Bereichsausnahme in Nordrhein-Westfalen unter Hinweis auf die fehlende landesgesetzliche Privilegierung (gemeinnütziger Organisationen oder Vereinigungen) im nordrhein-westfälischen Rettungsgesetz abgelehnt. In § 13 Abs. 1 RettG NRW heißt es in diesem Zusammenhang:
„Der Träger rettungsdienstlicher Aufgaben kann die Durchführung des Rettungsdienstes …auf anerkannte Hilfsorganisationen und andere Leistungserbringer … übertragen.“
Im Vergleich hierzu hat beispielsweise Bayern seinen Beauftragungstatbestand insoweit in Art. 13 Abs. 1 Satz 2 BayRDG erst im vergangenen Jahr wie folgt gefasst:
„Die Vergabe erfolgt nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 GWB ausschließlich an gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen.“
Das Oberverwaltungsgericht bezieht in seiner aktuellen Entscheidung nun klar Stellung für die Möglichkeit der Anwendung der Bereichsausnahme in Nordrhein-Westfalen. Bemerkenswert an der Entscheidung ist, dass das OVG die Frage der Weichenstellung für oder gegen die Anwendung der Bereichsausnahme in die Hände der Aufgabenträger legt. Es geht davon aus, dass die Frage einer Privilegierung gemeinnütziger Organisationen oder Vereinigungen im Einzelfall im Bezug auf die konkrete Beauftragung entschieden werden müsse. Aus dem Wortlaut des Art. 10 lit. h der Richtlinie 2014/24/EU, der auf den „Gegenstand“ des Dienstleistungsauftrages abstellt, folgert das OVG,
„dass sich die Formulierung „erbracht werden“ auf den konkreten Auftragsgegenstand und den konkreten Auftragnehmer bezieht“.
Auch durch einen systematischen Vergleich mit dem benachbarten Art. 10 lit. d iv) der Richtlinie 2014/24EU sieht sich das OVG in der Auffassung bestätigt,
„dass die Formulierung „erbracht“ … in einem konkret auf das jeweilige Ausschreibungsverfahren bezogenen Sinne zu verstehen ist“.
Aus dem Fehlen einer Privilegierung im nordrhein-westfälischen Rettungsgesetz folgert das OVG sodann lediglich, dass den Aufgabenträgern in NRW ein Wahlrecht zwischen der Anwendung und der Nichtanwendung der Bereichsausnahme zukommt. Dazu das OVG wörtlich:
„Dem Träger des Rettungsdienstes verbleiben neben der Ermessensentscheidung, ob er die Rettungsdienstleistungen überhaupt auf Dritte übertragen will, aber auch ein Ermessen dahingehend, ob er gewerbliche Anbieter in die Ausschreibung einbezieht oder nicht.“
Mit dieser klaren Entscheidung in NRW nehmen also die Gestaltungsspielräume der rettungsdienstlichen Aufgabenträger deutlich zu. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der laufenden und vom Verfasser geleiteten wissenschaftlichen Studie „Rettungsdienst-Beauftragung/Vergabe 2030“ interessant (näheres unter: https://rettungsdienst2030.de/; sowie in einem Informationsfilm unter: https://rettungsdienst2030.de/informationsfilm). Die Studie hat es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, durch die Erarbeitung neuer Beauftragungs- und Vergabemodelle nicht nur das Verfahren praktikabler und einfacher zu gestalten, sondern v. a.
- die Hebung von Qualitäts- und Innovationspotentialen zu fördern und
- die Attraktivität des Arbeitsplatzes Rettungsdienst zu erhöhen.
Letzteres erfährt auf dramatische Weise mittlerweile eine hohe Aktualität. Denn die Personalknappheit im Rettungsdienst wird zu einem immer drängenderen Problem – ja, voraussichtlich zu dem drängendsten Problem der kommenden Jahre. In unserer Beratungspraxis erleben wir derzeit zunehmend Fälle, in denen Bedarfspläne aufgrund von Personalmangel nicht mehr umgesetzt werden können.
Damit verträgt es sich kaum, dass nach den bundesweiten Erhebungen der Studie rund 60% der Vergabewettbewerbe der letzten Jahre im Rettungsdienst über die Personalkosten entschieden worden sind – m. a. W. der Wettbewerb in diesen Fällen nicht in einem Qualitätswettbewerb, sondern in einem Wettbewerb der verschiedenen Tarifsysteme oder gar einem Unterbietungswettbewerb bei der Personalvergütung besteht.
Im Zusammenhang mit der Studie betreuen wir daher derzeit bundesweit mehrere Pilotprojekte von Rettungsdienst-Vergaben, bei denen neue Ansätze zur praktischen Umsetzung kommen, mit denen u. a. der Wettbewerb um die Qualität des Arbeitsplatzes und die Effektivität der Personalgewinnung, anstatt eines Preiswettbewerbs beim Personal, in den Mittelpunkt gestellt wird.
Der Spielraum für derartige innovative Herangehensweisen wird durch die aktuelle Entscheidung in NRW für die Aufgabenträger nun erheblich gestärkt.